Kurzgeschichte: "Endlich. Für immer."

Veröffentlicht auf von ashleya

Liebe? Das war etwas, das er nie wirklich bekommen zu haben schien. Schon seit seiner frühesten Kindheit hatte sich alles um seine große Schwester gedreht. Leslie war ja so talentiert. Das Klavier ihre große Leidenschaft. Auf jedem ihrer Vorspiele waren seine Eltern präsent. Und er hatte das auch zu sein. Sein Fußballtraining? Vollkommen egal. Er war auch talentiert. Ja, das war er wirklich. Sein Trainer meinte, er hätte die besten Chancen auf eine Profikarriere. Doch egal, wie wichtig ein Spiel war, seine Eltern konnten es nie einrichten, zu kommen. Zu jedem Spiel musste er mit dem Bus fahren. "Leslie, du hast so toll gespielt.. Du musst doch bestimmt hungrig sein, oder? Ich koche dir doch gerne etwas! Was willst du denn haben?" hieß es nach jedem ihrer Vorspiele. Nach dem Fußballtraining war alles, was er bekam, wenn überhaupt, ein: "Wenn du Hunger hast, dann koch dir doch einfach etwas!" Nach Jahren dieser ihm entgegengebrachten elterlichen Kälte war er schließlich zu der Überzeugung gelangt, auf der Welt existiere einfach nicht genügend Liebe, um ihn auch noch mit zu versorgen. Welch eine Ironie. Noch ein wertvolles Gut, das nur allzu ungleich verteilt war. Der eine bekam im Überfluss, während der andere tun konnte, was er wollte, ohne auch nur das geringste Bisschen abzubekommen.

Irgendwann fingen sie an, Leslie auf eine teurere, musikalisch ausgerichtete Privatschule zu schicken. Eine, auf der sie sich dann voll und ganz ihrer großen Liebe widmen konnte. Fußballtraining gab es für ihn ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Auch die Schule musste er wechseln. Früher war es wenigstens auch eine Privatschule gewesen. Das einzige, wenn auch kleine, Anzeichen dafür, dass er ihnen vielleicht doch etwas bedeutete. Nun war es das schäbige Gymnasium ein paar Blöcke weiter mit dem schlechten Ruf. Eigentlich hatte er noch nie sonderlich große Schwierigkeiten gehabt, was soziale Kontakte betraf. Doch hier war alles anders. Wer nicht bis um 3 Uhr morgens mit auf große Sauftour gehen konnte oder wollte, hatte im Prinzip schon verloren. Man fing an, zusammenhanglose und sinnlose  Gerüchte über ihn in die Welt zu setzen. War der "Verfasser" beliebt, so wurden diese natürlich sofort geglaubt. Es war illusorisch, daran zu glauben, dass es auch nur den geringsten Unterschied machte, würde es von jemandem, der weniger angesehen war, in die Welt gesetzt. Denn früher oder später würde es bei einem der Leute mit einem gewissen Beliebtheitsstatus landen. Womit man wieder bei der zuvor geklärten Glaubensfrage wäre. Natürlich versuchte er weiterhin, neue Leute kennenzulernen, fest davon überzeugt, dass ja nicht alle so sein konnten. Er hatte recht, doch die, die nicht so waren, liefen denen, die es eben waren, wie angeleint nach. Alle auf der Suche nach Akzeptanz. Individualität und Wertvorstellungen waren irgendwo auf der Strecke geblieben. Alles, was er bekam, waren Schläge ins Gesicht. Erst verbal, dann real. Der einzige Kommentar seiner Eltern dazu war: "Wie siehst du denn schon wieder aus? Für dich muss man sich ja schämen!"

Er hatte niemanden, absolut niemanden, außer sich selbst. Seine ehemaligen Fußballkameraden wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben, da seine Eltern es so dargestellt hatten, als habe er die Mannschaft und somit seine Freunde vor dem wichtigsten Spiel überhaupt freiwillig im Stich gelassen. Jeder wusste es, doch keiner tat etwas. Physisch, vor allem aber psychisch, ging es ihm immer schlechter. Er hätte sich wehren können, ja, das hätte er. Doch was hätte es genützt? Keiner hätte hinter ihm gestanden. Er hatte keinen Rückhalt. Und ohne Rückhalt geht der Mensch zugrunde. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

Seine Gitarre, die er einst so geliebt hatte, konnte er nicht mehr spielen. Die Eltern hatten sie verkauft. Wie hatten sie sich nur das Recht herausnehmen können? Er hatte sie sich damals von seinem ersten selbstverdienten Geld gekauft und sich alles selbst beigebracht. "Du hast das Ding doch sowieso nie gespielt." Ein Argument, das dadurch noch schwächer wurde, dass sie wussten, dass er jede freie Minute mit spielen verbrachte. Schließlich hatten sie es ihm ja immer vorgehalten.

Sie waren so beschäftigt mit Leslie und sich selbst, dass sie nichts davon merkten, dass ihr Sohn schließlich Depressionen bekam. Wie hätte es ihnen auch auffallen sollen? Sie kannten ihn ja nicht einmal wirklich. In der Schule war er eigentlich immer gut gewesen. Und hatte auch vorgehabt, es weiterhin zu bleiben. Doch jeder Kommentar, den er von sich gab, wurde als "streberhaft" bezeichnet und verschaffte ihm noch mehr physische und auch weiterhin immer schlimmere psychische Attacken. Also wurde er immer stiller. Mit wem hätte er denn schon groß darüber reden sollen? Wie vorauszusehen war, verschlechterten sich seine schulischen Leistungen stetig. Bis schließlich der Brief der Schule an seine Eltern kam. Er würde das Jahr nicht schaffen. An diesem Tag wagte er sich stundenlang nicht nach Hause. Er lief durch den Wald, begann Fluchtpläne zu schmieden, die jedoch alle an ein und derselben Frage scheiterten: "Wohin denn bitte?" Es blieb ihm im Endeffekt ja doch nichts anderes übrig als heim zu gehen. Seine Eltern reagierten durch seine Verspätung nur noch aggressiver. Der Grund, warum ihr Sohn schulisch so schlecht geworden war, interessierte sie nicht. Noch nie hatte sein Vater ihn geschlagen. Doch einmal ist bekanntlich immer das erste Mal. Und auch hier war es nicht anders. Die vielen blauen Flecken fielen seinem Vater dabei nicht einmal auf. Wenn er einlenken und doch ein Wort der Erklärung aussprechen wollte, so wurden die Schläge noch härter.

Das war die Nacht, in der er einen wichtigen Entschluss fasste. Den wichtigsten und auch schwerwiegendsten seines Lebens. Am nächsten, ja, spätestens zwei Tage später, wussten sie es alle. Seine ehemals ach so guten Fußballfreunde, Leslie, seine Eltern und auch seine Mitschüler. Ja, sie hatten ihn zum Schweigen gebracht. Endlich. Für immer.

Veröffentlicht in Kurzgeschichten

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G
toooolll *_* schreib weiter so geile Kurzgeschichten =)
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