Kurzgeschichte: "Nie.."

Veröffentlicht auf von ashleya

Als sie etwa 3 Jahre alt war, hatte sie einmal diesen Traum gehabt. Auch viele Jahre später erinnerte sie sich noch so genau daran, als sei es erst vor ein paar Stunden gewesen. Sie mit ihren Eltern auf einem Fest. Damals war sie noch sehr interessiert an Modelleisenbahnen gewesen. Jede Bewegung, die dieser Motor, ja jedes noch so kleine Zahnrad im Getriebe vollführte, faszinierte sie. Jedes Detail der Anlage wurde genauestens von ihr inspiziert. Eine Eigenschaft, die ihren Vater, dem ein Sohn eigentlich lieber gewesen wäre, sehr glücklich und auch stolz machte. Jedes Mal, wenn er das Lächeln auf ihrem Gesicht sah und das Strahlen in ihren Augen, wenn sie dann auch einmal selbst am Trafo stehen durfte, ließ ihn schmunzeln. Da stand sie nun auf besagtem Fest und schaute begeistert zu, wie gerade eine der Lokomotiven repariert wurde. Staunend beobachtete sie, wie der Mann das Gehäuse öffnete und bewunderte die Art, wie er mit dem Schraubenzieher umging, sah zu, wie gezielt seine Finger alles taten, um das Problem zu beheben. Alles andere war unwichtig. "Schau mal, Papa!", meinte sie und streckte ihren Arm dabei nach hinten, um an seiner Jacke zu ziehen, "Der macht das ja ganz genauso wie.." Doch er war nicht da. Tausende und abertausende Menschen um sie herum. Alle so groß. Und keiner kümmerte sich um sie. Jeder wollte nur zum nächsten Stand, ein Schnäppchen machen, bevor der andere da war. Ein kleines Kind war da vollkommen egal. Sie bahnte sich immer verzweifelter einen Weg durch die Menge. Langsam begann die Welt um sie herum zu verschwimmen. Ihr Gesicht wurde nass. Erst nur ein wenig, dann immer mehr. Das Stimmengewirr schien immer lauter und undurchdringlicher zu werden, als sie rief: "Papa, Mama!" Von rechts das Knie, von links die zu tief gehaltene Tasche. All das machte es noch schlimmer. Endlich an der Treppe angekommen sah sie ihre Eltern und lief so schnell sie konnte auf sie zu. Sie klammerte sich fest an ihre Mutter: "Nicht weggehen... Bitte...", schluchzte sie. "Wir würden dich nie alleine lassen, Schatz, nie."


Warum dieser Traum sie nie ganz losgelassen hatte, konnte sie nicht genau sagen. Vielleicht, weil er zeigte, wie stark ihr Bedürfnis nach Liebe und menschlicher Wärme war. Einiges hatte sich seitdem geändert. Sie war erwachsen geworden. Stand kurz vor dem Abitur. Träume? Die hatte sie eigentlich längst aufgegeben. Als ihre Mutter gestorben war, hatte sich ihr Vater zurückgezogen. Geflüchtet war er. In eine Welt ohne seine Tochter. Doch sie hatte sich daran gewöhnt. Alles in allem gab es nicht mehr sehr viele Menschen, die ihr so wichtig waren wie einst ihre Eltern. Ein paar gute Freunde, ja, doch die meisten von ihnen waren weggezogen oder hatten die Schule abgebrochen. Und auf einen Vater, dessen einzige Worte an sie aus Vorwürfen wie "Schau dich doch mal an! Was ist nur aus dir geworden? Das hätte Mutter sicher niemals gewollt." bestanden, konnte sie nun wirklich verzichten. Das Klingeln der Türglocke holte sie zurück in die Küche ihrer Wohnung, wo sie nun saß, eine inzwischen schon abgekühlte Tasse Tee in der Hand. Sie stellte sie ab und öffnete die Tür. Es war ihr Freund. Wie glücklich sie doch war, ihn zu sehen! Sie schenkte ihm eine Tasse Tee aus der Thermoskanne ein, damit er sich aufwärmen konnte. Dankbar nahm er sie an. Als sie ein paar Minuten später in seinen Armen lag, konnte man es, wenn man ganz genau hinschaute, sehen. Das Strahlen in ihren Augen. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, wusste sie ganz genau, was für ein Glück sie hatte. Er hatte es zurückgebracht. Sie spürte, wie ihr die Tränen die Wangen hinunterflossen und auf seine Hand tropften. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie vor Glück begonnen zu weinen. "Hey, was ist denn los?", fragte er und nahm ihre Hand. Sie schaute ihm in die Augen. "Nicht weggehen... Bitte..." war alles, was sie sagte. "Ich würde dich nie alleine lassen, Schatz.", antwortete er, "Nie."

Veröffentlicht in Kurzgeschichten

Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren:
Kommentiere diesen Post
G
*schnief* so schön ...*trän*<br /> Elke, ich LIEBE deine Kurzgeschichten=)
Antworten