Kurzgeschichte: "Nur ein Spielball"

Veröffentlicht auf von ashleya

Als sie mit der Zungenspitze an ihren Lippen entlangfuhr, erschrak sie zunächst über den metallischen Geschmack, der sich ihr unwillkürlich aufdrängte. Sie spürte ein leichtes Gefühl von Übelkeit. Je mehr sie ins Nachdenken geriet, desto mehr vermischte es sich mit Reue und Wut auf sie selbst, begleitet von stärksten Vorwürfen. Warum hatte sie sich so gehen lassen?

Man hätte sagen können, es war von Anfang an nicht ihr Tag gewesen. Erst hatte sie verschlafen und dann war alles nur noch schlimmer geworden, gerade so, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen. Als auf unzählige Versuche, den Motor ihres Wagens in Gang zu bekommen, nach einer gefühlten halben Ewigkeit endlich ein Erfolgserlebnis folgte, so geschah dies scheinbar nur, um sie gleich von einem Stau in den nächsten und von dort direkt zum nächsten Blitzer zu führen, der kurzerhand beschloss, ihr als Belohnung für ihre Eile gleich noch ein ganz besonderes Passfoto zu schenken. Folglich war, als sie schließlich an ihrem Zielort eintraf, die wohl wichtigste Präsentation ihres bisherigen Lebens, die auch noch maßgeblich über den weiteren Verlauf des selbigen entscheiden sollte, bereits abgesagt. Drei Stunden habe man auf sie gewartet bis man es schließlich aufgegeben habe. Sie hätte sich ja wenigstens melden können, dann wäre das alles halb so schlimm gewesen. Richtig, das hätte sie. Hätte ihr Mobiltelefon nicht 10 km entfernt in ihrer Wohnung auf dem Nachttisch gelegen, als sie in den ersten Stau geraten war. Heutzutage könne man so etwas durchaus erwarten, meinte ihr Chef. Seiner Art nach zu urteilen war wohl auch er mit dem falschen Fuß aufgestanden. Wobei drei Stunden in einem Raum voller Wartender zu sitzen und nicht erklären zu können, wo die mit Spannung erwartete Angestellte denn nun bleibe, sicherlich auch die Macht hatte, jedem sonst noch so unerschütterlichen Optimisten den Rest zu geben. Und nach besagten drei Stunden hatte er nun auch sein Ablassventil gefunden. Sie brauche sich hier nie wieder blicken zu lassen, solch eine enorme Menge an Inkompetenz habe man ihr niemals zugetraut. So war, ehe sie sich versah, auch noch der hart und voller Elan fast erarbeitete Traumposten Geschichte. Sie war vollkommen am Boden zerstört, sagte sich zunächst, das könne alles nur ein Traum sein. Doch nachdem schließlich auch die letzte Schrecksekunde das Zeitliche gesegnet hatte und sich ihre Umwelt kein Bisschen zum Positiven verändert hatte, musste sie wohl oder übel den Tatsachen ins Auge sehen. Warum sie denn um Himmels Willen noch hier sei. Ob sie denn immer noch nicht verstanden habe, dass sie fristlos gekündigt sei. Die Worte, die gesamte Situation. Das alles schien von so unglaublich weit her zu kommen. Wie in Trance begann sie, sich in Richtung Ausgang zu bewegen. Nach und nach richtete sie ihre gesamte Konzentration darauf, ihre Tränen zurückzuhalten. Wenigstens gehen wollte sie in Würde und ohne dass man etwas daran auszusetzen haben konnte. Doch die Fassade hielt nicht sonderlich lange. Schon auf dem Weg nach draußen war sie trotz aller Bemühungen mehr und mehr gebröckelt. Kaum außer Sichtweite, fiel sie dann sofort auf die Knie und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wie verdorben diese Welt doch war. Alle liefen sie an ihr vorbei, zeigten mit dem Finger auf sie, zogen ihre Kinder von ihr weg. Keiner aber dachte auch nur im Entferntesten daran, sie zu fragen, ob man ihr irgendwie helfen könne. Noch immer einsam und verlassen wischte sie sich schließlich die Tränen aus den Augen, stand auf, ordnete ihre Kleidung und lief zum nächsten Supermarkt. Sie wollte nicht viel. Taub sein für den Schmerz oder ihn zumindest einmal abdämpfen so stark es ging. Und es wirkte tatsächlich, das allseits bekannte Wundermittel. Zwar waren ihre Augen noch immer rot und aufgequollen, aber es ging ihr besser. Sie lief zurück zu ihrem Auto und fuhr los. Den Entschluss nach Hause zu fahren fasste sie nicht einmal bewusst. Der Fahrtweg hatte sich schon so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt, dass sie es automatisch tat, fast wie ferngesteuert.

Sie hatte es nicht gesehen. Da war dieser Ball und schon Bruchteile von Sekunden später lag es auf der Straße. Vor Schreck hatte sie sich auf die Unterlippe gebissen. Doch sie hielt nicht an. Sie fuhr einfach weiter, ohne groß darüber nachzudenken, bis sie schließlich in ihrer Wohnung angekommen war, wo sie jetzt saß und schließlich über alles einigermaßen vernünftig zu reflektieren versuchte.

Es klingelte an der Tür. Ohne aus dem Fenster zu schauen, wusste sie bereits, wer es war. Sie drehte sich ein letztes Mal um und es wirkte, als nähme sie von jedem noch so kleinen Ding einzeln Abschied. Sie wusste, dass sie für lange Zeit nicht zurückkehren würde. Sie fragte sich, ob ihr das alles jemals auch nur eine Sekunde lang wirklich gehört hatte. Denn ein einzelner Tag hatte gereicht, um ihr alles zu nehmen und sie im Nichts versinken zu lassen.

Veröffentlicht in Kurzgeschichten

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