Kurzgeschichte: "Ein Abendspaziergang"

Veröffentlicht auf von ashleya

Es geschah in einer lauen Winternacht. Obwohl die Sonne eigentlich schon untergegangen war, war ihre Präsenz sehr wohl noch wahrnehmbar. Die Tage zuvor war es so kalt gewesen wie lange schon nicht mehr und die Straßen waren in Massen von Neuschnee versunken. Für Schnee war es jetzt zu warm. Doch der Regen schickte sein beruhigendes Geräusch in die sonst so stille Nacht, während ich mir meinen Weg durch den Schnee kämpfte, die Kapuze meines Mantels als einzigen Schutz vor der Nässe. Als ich den mir nur allzu vertrauten Weg nun entlanglief, erschien vor mir das Gesicht eines wohlbekannten Menschen. Jemand, bei dem ich mich schon gar nicht mehr daran erinnern konnte, ihn nicht zu kennen, tauchte mit seinem Hund vor mir auf. Ich bereitete mich darauf vor, zu grüßen, hatte den Mund schon geöffnet, mir die Worte bereits zurechtgelegt. Doch bevor ich dazu kam, zu sprechen, begann die Person förmlich vor mir zu fliehen, den Hund mit sich ziehend. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich meine Kapuze ausziehen sollte, vielleicht würde sie mich dann erkennen. Unwillkürlich fuhr ich mir mit meinen nassen, kalten Händen durchs Gesicht. Was war da, das mich so erschreckend hatte aussehen lassen? Weshalb wandte sich plötzlich jeder so von mir ab? Der Gedanke ließ mich nicht los. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich fand nichts.

Ein klein wenig später, fast so, als wolle man mir das Gegenteil beweisen, hielt ein Auto neben mir. Ich kannte die Fahrerin nicht. Sie fragte mich nach dem Weg. "Entschuldigen Sie, wissen Sie, wo der Vogelherdweg ist?" Doch obwohl ich mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatte, konnte ich ihr nicht weiterhelfen. So fuhr auch sie ohne ein Wort weiter. Ich wollte einfach weiterlaufen, an nichts denken, mich der Natur um mich herum vollkommen hingeben (schließlich lief ich direkt am Wald entlang), doch es gelang mir nicht. Unaufhörlich musste ich an die erste Begegnung des Abends denken, beschäftigte mich damit, was mich wohl so abstoßend gemacht hatte. Aber vielleicht war es etwas, das für mich überhaupt nicht erschließbar war? Vielleicht war ich dazu verdammt, sinnlos darüber nachzudenken, während ich alle paar Meter den Gehweg entlangschlitterte und es fast schon ein Wunder war, dass ich noch nicht endgültig hingefallen war? Ich fand keine Antwort auf meine Fragen. So folgte ich weiter meinem Weg.

Und während ich in regelmäßigen Abständen in riesigen Pfützen aus Regen und geschmolzenem Schnee, die nicht enden zu wollen schienen, versank, fragte ich mich, wie es möglich war, dass die große Welt, die mir doch angeblich so offen stand, so viele Möglichkeiten bot, bei denen sie nur darauf wartete, mir sie zu präsentieren; wie es sein konnte, dass diese große Welt munter genau so fortbestand, während meine kleine Welt dabei war, vollkommen in sich zusammenzubrechen.

Veröffentlicht in Kurzgeschichten

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