Namen sind Schall und Rauch?

Veröffentlicht auf von ashleya

Tsukuru hatte einmal in einer Zeitung oder Zeitschrift eine Statistik gesehen, derzufolge etwa die Hälfte der Menschen auf der Welt mit ihrem Namen unzufrieden war. Er jedoch gehörte zu der anderen, der glücklicheren Hälfte. Zumindest konnte er sich nicht erinnern, jemals unzufrieden mit seinem Namen gewesen zu sein. Oder besser gesagt, er konnte sich weder vorstellen, einen anderen Namen zu haben, noch, welches Leben er dann geführt hätte. (Haruki Murakami; Ursula Gräfe, Üb.: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki)

Ich denke, man kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass wohl jeder von uns, und sei es nur einen kurzen Augenblick lang, schon einmal unzufrieden mit seinem Namen war. Wer hat nicht seine Eltern gefragt: "Warum heiße ich eigentlich so?" Und auch wenn man das Gefühl hat, so zu heißen wie die halbe Bevölkerung des Landes, aus dem man kommt, oder in dem die Wurzeln der Familie liegen, so hat doch jeder Namensfindungsprozess, und sei er noch so kurz, seine ganz eigene Geschichte.

Die vier anderen nannten einander natürlich sofort nach ihren Farben: Aka, Ao, Shiro und Kuro. Rot, Blau, Weiß und Schwarz. Nur er blieb weiterhin bloß Tsukuru. Immer wieder überlegte er, wie schön es gewesen wäre, wenn auch er eine Farbe in seinem Namen gehabt hätte. Dann wäre alles perfekt gewesen. (Haruki Murakami; Ursula Gräfe, Üb.: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki)

Nicht selten entsteht Unzufriedenheit mit dem eigenen Namen aus der Interaktion mit anderen. Während der eine sich aufregt, dass er seinen Namen ständig buchstabieren muss, gäbe der andere einiges dafür, solch einen besonderen Namen zu tragen. Auch Tsukuru Tazaki lässt sich, obwohl er ja eigentlich nicht unzufrieden mit seinem Namen ist, stellenweise dazu verleiten, sein Schicksal mit Hilfe seines Namens zu erklären. Alle seine besten Freunde tragen Farben im Namen. Nur er war schon immer der "Farblose". Frei nach dem Motto: "Das alles war also schon von vornherein zum Scheitern verurteilt." Doch als er nach und nach herausfindet, weshalb seine Freunde vor Jahren so plötzlich den Kontakt zu ihm abbrachen, stellt er fest, dass er seine Meinung von sich selbst wohl noch einmal überdenken sollte.

"Oh, so heißt meine Tante auch!" "Wie witzig, so heißt meine Mutter!" Wie soll man bei solchen Ausrufen denn als Kind nicht irgendwann das Gefühl bekommen, man trägt einen Namen für alte Leute? In der Tat habe ich nicht oft Leute in meinem Alter getroffen, die so heißen wie ich. Und als es dann einmal so weit war, gab es wiederum andere, die glaubten, etwas stimme nicht mit mir und ich rede ständig von mir selbst.

"Wie ist eigentlich dein zweiter Vorname?" Diese Selbstverständlichkeit, mit der nach etwas gefragt wurde, das ich nicht hatte. Nicht selten hatte ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Wie gerne hätte ich die Wahl zwischen mehreren Namen gehabt. Nicht einfach nur einen kurzen, aus dem man noch nicht einmal einen sinnvollen Spitznamen bilden kann. Sich darüber lustig machen konnte der eine oder andere dann umso besser. Meine Eltern hatten versucht, mir auch einen Namen zu geben, der zumindest nicht sofort dazu verleitet, sich darüber lustig zu machen. Ein ehrenwerter Vorsatz, der aber nur insoweit funktionieren kann, als sich niemand um jeden Preis darüber lustig machen will.

Dass wir mit bestimmten Namen, unabhängig von deren eigentlicher Bedeutung, bestimmte Assoziationen verbinden, zeigt sich deutlich in der Überraschung, die wohl die meisten schon einmal empfunden haben, sobald wir den Namen eines Gegenübers erfahren. Dabei geht es in vielen Fällen gar nicht darum, dass der Name in unseren Köpfen mit einer Nationalität verbunden ist, die nicht zu dem Eindruck passt, den wir bisher von unserem Gegenüber hatten. Wenn der Lehrer Matthias immer Fabian nennt, obwohl es in der Klasse keinen Schüler gibt, der auch nur annähernd so ähnlich wie "Fabian" heißt, kann man sich durchaus überlegen, was die Gründe dafür sein könnten. "Ich sah eben immer wie ein Fabian aus.", meinte er einmal zu mir. Was unweigerlich zu der Frage führt, was denn einen Fabian von einem Matthias unterscheidet. Vielleicht kannte sein Lehrer aus einer anderen Klasse oder vielleicht sogar aus seiner Jugend einen Fabian, dem dieser Matthias einfach zu sehr ähnelte. Die wahren Gründe werden wir nicht erfahren. Aber die Tatsache, dass niemand sonst bisher in diesem Matthias einen Fabian gesehen hat, zeigt eines ziemlich deutlich, nämlich, dass es sich dabei durchaus um etwas sehr Subjektives handelt. Was wir mit verschiedenen Namen verbinden, ist auch immer von unseren eigenen Erfahrungen geprägt. Bekannte Persönlichkeiten, die denselben Namen tragen, Kindheitsfreunde, flüchtige Bekannte. Mit jedem Matthias, den wir kennenlernen, erhält dieser Name eine andere Färbung. Es gibt keinen Grund, der dagegen spricht, dass der eingebildetste und der einfühlsamste Mensch, den wir je kennengelernt haben, denselben Namen tragen. Und jeder "gute" Matthias trägt seinen Teil dazu bei, die nur allzu menschliche Verallgemeinerung ausgehend vom "schlechten" Matthias zu übermalen bis sie schließlich nur noch ein kleiner Fleck auf dem so viel größeren Gemälde ist.

Auch ich gehörte einmal zur eingangs erwähnten unzufriedenen Hälfte; zu denen, die sich schon gefragt haben, wie ihr Leben vielleicht anders verlaufen wäre, hätten sie nur einen anderen Namen mit auf den Weg bekommen. Das alles ging sogar so weit, dass ich eine Zeit lang ernsthaft mit dem Gedanken gespielt habe, meinen Namen zu ändern. Und sicherlich hätte ich als Maria oder Anna so manche Schwierigkeit nicht gehabt. "Wenn er dir nicht gefällt, dann ändere deinen Namen doch, sobald du alt genug bist!" Aus dem Mund einer anderen Person klang das so lächerlich. Als könnte man so das Geschehene ändern. Mein Name war keine spontane Entscheidung. Ihn zu ändern käme mir vor wie ein Verrat an denen, die ihn mir voller guter Wünsche für mein weiteres Leben gegeben haben. Nicht unser Name bestimmt, wer wir sind, und nur zu einem kleinen Teil bestimmt er, wie andere uns sehen. Vielmehr bestimmen wir, wie unser Name gesehen wird. Durch das, was wir sind. Mein Name ist ein Teil von mir und ich habe noch einen Großteil meines Lebens Zeit, um ihm durch die Augen anderer Menschen die zusätzliche Bedeutung zu geben, die er in meinen haben soll. Letztendlich gibt es wohl auch Schlimmeres als "von edlem Wesen" zu sein. Auch wenn ich das ein paar Jahre lang wohl deutlich lieber als "Alice" gewesen wäre.

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